Neulich habe ich ein Reel angeschaut, bei dem eine Person am Telefon sagte: „Was wollen Sie jetzt – den Chef sprechen oder jemand der Ahnung hat?“ Die Weiterleitung an Freunde aus meinem Netzwerk brachte mir viele „Likes“ ein. Einerseits schön, aber eigentlich doch auch traurig. Scheint es doch so zu sein, dass viele diese Thematik kennen.
[Kritiker könnten jetzt auch sagen, dass ich einmal mein Netzwerk checken sollte (Selbstironie aus)]
Die spannende Frage ist doch aber, wie kommt es dazu? Wieso gibt es ein Dilemma zwischen Hierarchie und Kompetenz? Und ist es eigentlich ein Dilemma bzw. muss es eins sein? Meine GedankenÜber beschäftigen sich also diesmal mit der Frage, wer letztendlich Entscheidungen für was treffen sollte.
Mit der Einführung von Produktionsprozessen, wie z.B. Fließbandarbeit hat sich die Zusammenarbeit von Menschen gewandelt. Mir ist bewusst, dass diese Aussage sehr generalisierend ist – zugleich möchte ich jetzt hier nicht in vertiefende, wirtschaftshistorische Betrachtungen einsteigen. Also, um die neuartigen Arbeitsprozesse gestalten zu können, wurde ein ordnungsgebendes Element geschaffen – Hierarchie! Daran ist einmal nichts Schlimmes, denn jede Organisation oder Gemeinschaft hat sich seit Menschheitsbeginn um Ordnung, Struktur und Orientierung gekümmert. Die Dynamik bei der Ausgestaltung von Hierarchie entstand durch die Etablierung eines „oben“ und „unten“. Und auch bis heute wird dies noch immer ganz häufig mit „Führung“ gleichgesetzt.
Hierarchie hat bis heute oft die Folge, dass einer sagt, was der andere machen soll. Dieses Prinzip ist in mancherlei Hinsicht nicht negativ, denn wenn ich mich z.B. in einer fremden Stadt nicht auskenne, die andere Person aber schon, dann ist die „Ansage“ hilfreich. Problematisch wird es immer dann, wenn „Ansagen“ ohne die dazu nötige grundlegende Kenntnis für das zu Entscheidende getätigt werden, gerade zu Zeiten der VUCA-Welt** – aber dazu gleich im Weiteren mehr.
Bestärkt wird das „wer, hat hier wem, was zu sagen“ auch noch durch visualisierende Elemente, wie z.B. Organigramme. Dort lässt sich meist sehr schnell sehen, wer hier das Sagen hat. Oft wird dies auch als Führungspyramide bezeichnet. Spannend wird es, wenn eine Veränderung der Ablauforganisation bzw. der Art und Weise der Aufgabensteuerung erfolgt. So sind nach meiner Beobachtung, Organisationen, die sich z.B. zu mehr Selbstorganisation wandeln, bei der grafischen Darstellung dieser häufig ratlos! [Da ist es doch viel leichter, wenn es ein oben und unten gibt und sich alles über Kästchen abbilden lässt (Ironie aus!)]
Zurück zu aktuell am weitesten verbreiteten Organisationsmodell, der Führungspyramide. Wie kommt man eigentlich in so einer Hierarchie nach „oben“ und hat etwas zu sagen bzw. wie wird man eigentlich Führungskraft? Auch dies ist keine triviale Frage – und auch hier werde ich meine Darstellung generalisierend vornehmen.
Nun, nach meiner Wahrnehmung muss man positiv im Sinne des Systems auffallen, um Führungskraft werden zu können. Und dies gelingt zumeist nur durch fachliches Können und durch sichtbar hohe Einsatzbereitschaft. Und dann kommt noch meist hinzu, dass der entsprechende Chef der Person wohlgesonnen ist. Ich stütze diese Darstellung durch meine Gespräche mit Organisationen, welche immer wieder selbstreflektiert attestieren, dass bei ihnen der/die fachlich Kompetenteste mit der Führung betraut wird.
Hinsichtlich unseres eingangs geschilderten Dilemmas besteht hier theoretisch noch kein Handlungsbedarf, denn noch ist kein Risiko für das Treffen von kompetenten Entscheidungen gegeben. Nun kommt aber in vielen Fällen das sogenannte „Peter-Prinzip“ hinzu. Dieses besagt, dass Personen in einer Hierarchie bis zu ihrer Unwirksamkeit befördert werden und dort dann verbleiben. Und schon sind wir näher am anfangs beschriebenen Reel. Übrigens, dass „Peter-Prinzip“ geht meines Wissens nicht auf die Anzahl der Beförderungen ein, welche zur Unwirksamkeit notwendig sind. So besehen, könnte also schon eine einzige, weitere Beförderung ausreichen. Die Konsequenzen aus diesem Prinzip können weitreichend sein.
Hier das aus meiner Sicht die folgenreichste Konsequenz: Anstelle von (fachlicher) Autorität steht Macht im Mittelpunkt. Ich nenne dies gern Führung nach „Gutsherren-Art“, im Sinne von, „ich will das aber so“. Dies führt natürlich langfristig zu einer entmündigten Belegschaft, welche nur das tut, was ihr gesagt wird. Ob es jedoch für die heutigen, vielfältigen Anforderungen an Organisationen noch der wirksamste Weg ist – das soll jede(r) für sich selbst beantworten.
Nun stellt sich aber die berechtigte Frage, wie man dem Dilemma begegnen kann, wenn es nicht mehr die Organisation lähmen soll.
Eine Einflussgröße könnte sein, die Betrachtung von Leistung anders vorzunehmen. In der Mehrzahl der Fälle wird immer nur das Ergebnis betrachtet. Ziel erreicht – ja oder nein – ist oft die einzig entscheidende Frage. Sicherlich ist dies ein ganz zentraler Aspekt, schließlich sind Ziele zum Erreichen da. Ergänzend plädiere ich aber dafür, zugleich noch den Weg zum Ergebnis zu betrachten. Denn hier liegt die eigentliche Qualität der Leistung. Wie bzw. wodurch ist es gelungen, dass Ziel zu erreichen? Hier zeigen sich viel mehr Fähigkeiten und Denkweisen als nur bei reiner Ergebnisbetrachtung. Wenn jetzt noch für eine Führungsrolle klar ist, welche Skills und welche Grundhaltungen wirklich benötigt werden, um diese wirksam einnehmen zu können, ist eine adäquate Besetzung aus meiner Sicht weitaus eher möglich. Und zugleich könnte es ermöglicht werden, die „Hierarchie“ oder eine ordnungsgebende Systematik mehr an Expertise zu orientieren. Entscheidungsmodelle wie z.B. der konsultative Einzelentscheid***, gehen in diese Richtung.
Die sogenannte Auftragstaktik oder Führen mit Auftrag wäre eine weitere, praxiserprobte Möglichkeit dem Dilemma zu entkommen. Es gibt die herrschende Populärmeinung, dass bei der deutschen Bundeswehr mit Befehl und Gehorsam agiert wird. Weit gefehlt, kann ich da nur sagen – das Gegenteil ist der Fall. Basierend auf einem Auftrag erarbeiten sich die jeweiligen Führungskräfte eigenständig den Weg zur entsprechenden Umsetzung und Zielerreichung. Dabei tragen sie die volle Verantwortung und sind sich stets der Tragweite ihrer Entscheidungen bewusst. Und natürlich geben sie Teile des Auftrags an ihre Führungskräfte weiter, welche diese dann auch wiederum eigenständig umsetzen. Das Prinzip „Befehl und Gehorsam“ würde ich eher mit dem sogenannten Mikromanagement gleichsetzen. Und wohin dies führt, weiß jede(r) die einmal darunter leiden musste.
Eine weitere Möglichkeit das Dilemma aufzulösen, besteht darin, von der beförderten Unwirksamkeit zurücktreten zu können und damit wieder in einen Bereich der eigenen Expertise/Kompetenz zu kommen. Oft wird dies jedoch durch die Unternehmenskultur behindert. Bei Rücktritt hat man es eben „nicht gebracht oder geschafft“, wird dann auf den Fluren gemunkelt bzw. in den Chats gelästert. Eigentlich könnte man doch froh darüber sein, dass die Unwirksamkeit erkannt wurde und die Gesamtverantwortung für die Organisation und deren Sache höher ist als die Einzelperson. Der Hebel liegt also darin, eine Kultur zu etablieren, die eine Rückkehr aus der Unwirksamkeit ohne Ansehensverlust ermöglicht.
Sogenannte „Führungsmythen“ aufzuräumen bzw. diese zu beenden wäre anderer Schritt dem Dilemma konstruktiv zu begegnen. So können „alte Zöpfe abgeschnitten“ werden und eröffnen den Raum für neues Denken und Handeln.
Ein schönes Beispiel für einen Mythos finde ich das Thema des Vorbilds. Mir ist bekannt, dass (gerade wieder einmal) ein Führungsmodell stark nachgefragt wird, welches das „Vorbild“ beinhaltet. Und ich frage mich immer wie eine Person, die führt darauf Einfluss nehmen soll bzw. diesbezüglich Wirkung entfalten kann. Natürlich ist es möglich als Führungskraft vorbildlich zu handeln, aber dies hat noch nicht zum Ergebnis, dass mich damit meine Mitarbeiterschaft als Vorbild wahrnimmt. Denn wen wir uns zum Vorbild wählen, entscheiden wir als Menschen sehr individuell und subjektiv. Zugleich finde ich es fast schon unmenschlich die Bürde eines Vorbilds zu tragen. Denn zu Ende gedacht bedeutet es ja, dass ich nahezu perfekt sein muss. Und damit kann leicht die Überzeugung entstehen kann, dass ich alles wissen und können muss – und schon wären wir wieder mittendrin im Dilemma.
Ein anderer Mythos ist, dass Führung immer die Antworten oder Lösungen parat haben muss. Gerade in der sogenannten VUCA-Welt**, in welcher hypothesenbasiertes, schrittweise lernendes Vorgehen angewendet werden sollte, kann es Antworten erst nach dem Ausprobieren geben. Mir ist es in meiner Rolle als Agile Coach häufig passiert, dass unabhängig von dem „Führungslevel“ das „Nicht-Wissen-Können“ mit Kontrollverlust und „Gesichtsverlust“ einherging. Negativ betrachtet, fühlten sich viele Führungspersonen durch VUCA „enttrohnt“. Hier war es immer wieder meine Aufgabe als Coach die Perspektiv- und Rollenentwicklung zu begleiten. Eine Entwicklung hin zu: Wer könnte am wirksamsten sein, um mit dem noch Unbekannten Erfahrungen und Learnings zu machen? Also kurzum: Weg von der Antwort oder Lösung hin zu, bestwirksamste Expertinnen und Experten in ein Thema bringen.
Stellen wir uns eine Organisation vor, bei welcher Entscheidungen dort getroffen werden, wo die eigentliche Expertise/Kompetenz ist und damit auch die Verantwortung „wandern“ darf. Und es einen Gesamtrahmen gibt, in welchem die Führungskräfte dafür gesorgt haben (und dies auch weiterhin tun), dass die Dinge von den „richtigen“ Leuten gemacht werden. Und das Vertrauen haben, dass die Leute die Dinge richtig machen. Ach ja, was wäre dann alles möglich…?
Doch dies sind nur meine GedankenÜber…Bei Gefallen würde ich mich über einen „Like“ freuen
Welche Erfahrungen habt ihr bezüglich des Dilemmas gemacht?
** In der sich schnell verändernden Welt ist es als Unternehmen oft schwer, sich anzupassen und zu überleben. Man spricht hier auch von der VUCA-Welt. Das Akronym steht für die englischen Begriffe volatility ‚Volatilität‘ (Unbeständigkeit), uncertainty ‚Unsicherheit‘, complexity ‚Komplexität‘ und ambiguity ‚Mehrdeutigkeit‘.
*** Der konsultative Einzelentscheid ist eine effiziente Form der Entscheidungsfindung in partizipativ organisierten Unternehmen. Eine Person entscheidet allein und verbindlich für alle bzw. andere. Sie muss vorher relevante Stakeholder konsultieren, um deren Einwände, Fragen, Ideen und Ratschläge zu hören.